LESEPROBE
Joni Murhata
Der Polizeichef, der sich fürchterlich langweilte
KAPITEL 1
Am 17. Juli um 9 Uhr betrat Inspektor Protheroe das Polizeigebäude. Er war ein grosser Mann im Alter von 40 Jahren. Er trug einen schwarzen Schnurrbart, der an eine Zahnbürste erinnerte und der – zumindest seiner Meinung nach – sein Gesicht verschönerte. Dieses Gesicht war im Grossen und Ganzen unauffällig, auffällig war einzig eine tiefe Stirnfalte, die sich regelmässig dann bildete, wenn ihm eine Laus über die Leber gekrochen war – was sehr häufig geschah.
Der Inspektor setzte sich auf seinen Bürostuhl, der ein quietschendes Geräusch von sich gab. Lustlos blätterte er in einem Stapel von Briefen, die auf seinem Pult lagen. Die ersten zwei Briefe legte er zur Seite, weil er sie uninteressant fand. Den dritten las er genauer durch, wobei er sich mit seinen Fingern durch das kurze Haar fuhr, das sich bereits gefährlich lichtete.
Er schürzte die Lippen, als sich die Türe öffnete und ein Mann eintrat.
«Endlich», knurrte Protheroe und seine Stirnfalte vertiefte sich.
Der Mann, der eingetreten war, hiess Sergeant Ruddock.
Ruddock stand im Türrahmen und hielt seinen Helm in der Hand.
«Entschuldigen Sie, Sir», sagte er und trat auf das Pult zu, an welchem er zu sitzen und zu arbeiten pflegte.
«Entschuldigen Sie! Entschuldigen Sie!», wiederholte der Inspektor. «Sie sind fast 10 Minuten zu spät, und das gehört sich nicht. Sie haben pünktlich zu erscheinen. Das wissen Sie sehr genau.»
Ruddock sagte nichts.
Sergeant Protheroe schaute ihn verärgert an. Warum schwieg Ruddock und stand einfach nur da? Immer, wenn man es mit ihm zu tun hatte, verhielt er sich so. Er entgegnete nie etwas, sondern stand immer nur da und sagte nichts.
«Nun», sagte der Inspektor schliesslich. «Haben Sie nichts zu sagen?»
Ruddock war ein drahtiger, mittelgrosser Mann. Er hatte das geradezu absurd rötliche und transparente Gesicht eines Schuljungen.
«Es tut mir leid», wiederholte der Sergeant.
«Vielleicht möchten Sie die Güte haben und sich nun doch langsam an Ihre Arbeit machen», fauchte Protheroe.
«Gewiss doch, Sir. Liegt etwas Besonderes an?»
In der Polizeistation von Eastrepp lag jedoch nie etwas Besonderes an, und das war auch heute so.
Protheroe musterte seinen Untergebenen mit einer verdrossenen Miene.
«Haben Sie», meinte er in einem vorwurfsvollen Ton, «die Angelegenheit von Richard Prescott angeschaut und auch die kleine Angelegenheit, bei der es um die Vorladung von Richard Prescott geht?»
«Das habe ich», antwortete der Sergeant. «Ich stattete dem Haus in Sheffield Park gestern einen Besuch ab. Prescott ist weggegangen, und seine Frau weiss nicht, wann er zurückkommt.»
«Ich will, dass ihm endlich die Vorladung überbracht wird», knurrte Protheroe. «Sie gehen noch heute Morgen vorbei und erledigen dies.»
«Sehr gut», antwortete Sergeant Ruddock.
Der Inspektor schaute seinen Untergebenen an. War es denkbar, dass dieser absichtlich in einem sarkastischen Ton antwortete?
«Der Tagesrapport», sagte Ruddock.
«Vielen herzlichen Dank», meinte Protheroe. «Vielleicht könnte es Ihnen möglich sein, eine Antwort auf die Briefe zu formulieren, die heute eingetroffen sind. Nichts von Bedeutung allerdings. Unter anderem ist da die Sache mit dem Hund der Jenkinson. Die Frau, die den Brief geschrieben hat, behauptet steif und fest, dass dieser Hund die Vögel erschreckt und sie vom Brüten abhält. Sie hat deswegen Anzeige erstattet. Und dann sind da noch die eine oder andere kleinere Angelegenheit. Ich muss mich um die wichtigen Dinge kümmern.»
«Die wichtigen Dinge?», echote Ruddock.
«Dass jemand auf dem Gebiet von Sir Jefferson Cobb gewildert hat, zum Beispiel.»
«Natürlich», sagte Ruddock, «die wichtigen Dinge.»
Der Kopf des Inspektors wurde rot. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen: Das, was Ruddock sagte, war eindeutig sarkastisch gemeint.
«Die wichtigen Dinge», beharrte der Inspektor. «Sir Jefferson Cobb, lassen Sie dies gesagt sein, hat mir wegen dieser Angelegenheit ein weiteres Mal geschrieben. Wir müssen eine Verhaftung vornehmen.»
«Ich stelle mir vor, dass Sie bereits jemanden im Kopf haben, den wir verhaften müssen.»
«Ich habe mindestens ein Dutzend Leute im Kopf, die man verhaften könnte», schnappte der Inspektor. «Unglücklicherweise verlangt die Magistraten Beweise. Auch wenn Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Die Magistraten verlangen Beweise. Be-wei-se, bevor wir jemanden verhaften.»
Der Inspektor lehnte sich zurück und war zufrieden mit sich selbst. Wenn es sein musste, konnte auch er sarkastisch sein.
Ruddock sagte nichts. Er nahm die Briefe, die auf dem Pult von Protheroe lagen und begab sich mit ihnen zu seinem Pult. In diesen Moment jedoch läutete das Telefon. Mit einer unwirschen Handbewegung forderte Protheroe Ruddock auf, den Anruf entgegenzunehmen.
«Polizeistation Eastrepps, Sergeant Ruddock», sagte dieser. Eine Weile schwieg er, dann meinte er:
«Ich höre Sie sehr gut – Sie können ruhig etwas leiser sprechen, bitte.»
Ruddock hörte weiter zu und wandte sich an den Inspektor.
«Colonel Hewitt ist am Apparat. Er verlangt nach Ihnen, Sir. Ein Mord.»
«Was?» brüllte der Inspektor.
«Mord», wiederholte Ruddock ruhig. Aber der Inspektor war bereits aufgestanden, hatte das Zimmer durchquert und ihm den Hörer entrissen.
«Hallo…hallo?»
Sergeant Ruddock trat respektvoll zur Seite. Der Inspektor war gezwungen, den Hörer weit von seinem Ohr entfern zu halten. Die fast gebellten Worte des Obersten waren im ganzen Zimmer zu vernehmen.
«Verdammt, Sir, wiederholen Sie doch nicht immer das, was ich sage… kommen Sie auf der Stelle zu dem Haus ‘The Hollies’, West Cliff… ich warte dort auf Sie und führe Sie hin.»
Der Inspektor wandte sich an Sergeant Ruddock. Seine Augen leuchteten.
«Ruddock», sagte er, und es war ihm anzuhören, dass er sich zwingen musste, ruhig zu bleiben, «Ruddock, holen Sie Williams und Birchington; sie sollen mich begleiten.»
Ruddock hatte bereits seinen Helm ergriffen.
«Sie bleiben hier», stoppte ihn Protheroe.
«Hier?» wiederholte Ruddock ungläubig.
«Muss ich alles zwei Mal sagen?», knurrte der Inspektor. «Sie bleiben hier und halten die Stellung.»
Ruddock schaute den Inspektor so an, wie wenn er protestieren wollte. Dann aber besann er sich eines Besseren und schwieg.
«Und die wichtigen Fälle?», fragte er schliesslich.
«Kümmern Sie sich um sie», sagte der Inspektor grosszügig. «Ich habe keine Zeit dafür.»
KAPITEL 2
Mrs. Dampier ging am Polizeiposten vorbei. Dort standen einige Leute, die sich lebhaft unterhielten. Die Türe zum Polizeiposten öffnete sich und zwei Polizisten eilten auf die Leute zu, schoben diese unsanft zur Seite und ergriffen ihre Fahrräder. Mit ihnen fuhren sie in der Richtung der Westklippen davon.
Mrs. Dampier ging weiter. Ein Mann und zwei Frauen kamen ihr entgegen. Der Mann hiess Captain Porter und war der Sekretär des lokalen Golfklubs. Die eine der beiden Frauen war die Gemahlin des Gemüsehändlers, die andere Frau hiess Miss Richards und war gewissermassen der Stolz des Dorfes: Sie hatte beim Golf ein Handicap von vier, schlug sich jeweils prächtig am Ladys Open, und alle im Dorf hofften, dass sie es eines Tages gewinnen würde.
«Meine Liebe», wandte sich Mrs. Dampier an die drei, «was ist denn eigentlich los?»
«Sie haben nichts gehört?»
«Ich habe nichts gehört – worum geht es, Captain Porter?»
«Miss Hewitt wurde diesen Morgen in Coat’s Spinney gefunden», sagte der Captain langsam und gemessen.
«Gefunden?», wiederholte Mrs. Dampier.
«Unsere liebe Freundin ist tot», sagte der Captain mit einer sanften Stimme.
«Ermordet», ergänzte Miss Richard.
Unwillkürlich trat Mrs. Dampier einen Schritt zurück. Sie spürte, dass sie mit ihrem Rücken die Mauer berührte, die um den Friedhof ging. Doch dies war ihr recht, denn es gab ihr Halt.
«Ermordet», sagte sie, und man sah es ihr an, dass sie das Geschehen noch gar nicht richtig realisiert hatte. «Aber ich habe doch noch gestern Abend mit ihr gesprochen!»
«Sie waren vermutlich die letzte Person, die sie lebend gesehen hat», mutmasste der Captain.
«Sie kam bei mir vorbei… um neun Uhr .., wie jeden Mittwoch», fuhr Mrs. Dampier fort. «Wir waren etwa eine Stunde unterwegs – ich zeigte ihr meinen Garten… ich kann es nicht glauben … sie hatte doch auf der ganzen Welt keinen einzigen Feind.»
«Es tut mir leid», sagte der Captain traurig. «Aber es gibt keinen Zweifel daran. Ihr Bruder fand sie vor etwa zwei Stunden.»
«Wie .. wie .. wurde sie ermordet», fragte Mrs. Dampier, und sie tat dies fast gegen ihren Willen. Auch wenn sie das Geschehen sehr traurig stimmte, nahm ihre Neugier dann eben doch Überhand.
«Erstochen, die arme Frau», sagte die Gemahlin des Gemüsehändlers bedächtig, «durch einen Stich in die rechte Schläfe, oberhalb des Ohres. Niemand weiss, wer es getan hat. Und wenn der Inspektor Protheroe derjenige sein sollte, der das Verbrechen aufklären muss, werden wir es auch niemals wissen.»
Die Gemahlin des Gemüsehändlers hegte eine tiefe Abneigung gegen die lokale Polizei – was möglicherweise nicht ganz unabhängig von der Tatsache war, dass ihr Gemahl seinerzeit einige unangenehme Momente bei der Polizei verbracht hatte: Man hatte ihm vorgeworfen, die Gewichte zum Messen der Gemüseeinkäufe ein wenig manipuliert zu haben – was sich dann leider als zutreffend herausstellte.
«Wer immer es getan hat – ich hoffe, dass man den Mörder fasst und … und ihn hängt», sagte sie energisch. .
Dann aber achtete niemand mehr auf sie. Ein lautes Lachen war zu hören. Es kam von einem jungen, grossgewachsenen Mann mit einem fliehenden Kinn und strähnigem Haar. Er trug einen grauen Anzug, und in einem Knopfloch steckte eine Rose. Vom Mann ging ein Geruch von Veilchen aus.
«Mord», sagte der Mann, «Mord. Das bringt ein wenig Schwung in die Bude. Verleiht dem Dorf etwas Leben.»
Alle waren schockiert und schwiegen.
«Also wirklich, Lord Alistair», sagte Miss Richard schliesslich, «ich glaube kaum, dass …»
«Ich weiss nicht, was Sie kaum glauben», unterbrach sie der junge Mann. «Aber ich weiss, was ich mir denke… Alle werden sich darüber freuen, dass der Punch… und auch sonst alle Zeitungen darüber berichten werden… wir werden jede Zeile in den Zeitungen gierig aufsaugen.»
Er schwieg kurz.
«Es muss dunkel gewesen sein im Wald, sehr dunkel … und sehr ruhig», fuhr er fort.
«Wir müssen uns auf den Weg machen», ertönte eine Stimme. Sie kam von einem Mann in einem schwarzen Anzug. Er berührte Lord Alistair am Ellbogen.
«Sonst kommen wir zu spät zum Essen.»
«Essen?», wandte sich Lord Alistair an den Mann im schwarzen Anzug. «Ist es schon so spät?»
«In zwanzig Minuten», gab der Mann zur Antwort.
Lord Alistair verbeugte sich vor den Frauen, die ihn verständnislos anschauten.
«Ein Mann muss essen», erklärte er. Dann zog er seinen Hut und ging an der Seite des Mannes weg.
«Also wirklich!» entrüstete sich Mrs. Cappell.
«Wer ist denn das?», wollte Mrs. Withers wissen.
«Das», half ihr Mrs. Withers weiter, «ist der ehrenwerte Lord Alistair. Er ist in unser Dorf gezogen, wegen .. wegen seiner Gesundheit. Er hat Probleme. Und der Mann im schwarzen Anzug ist Dr. Higgins – er muss auf Lord Alistair aufpassen.»
«Sie hätten ihn in eine Klapsmühle stecken sollen», meinte Mrs. Dampier, «solche Leute gehören nun wirklich nicht hierher.»
Alle drei Frauen schauten dem ehrenwerten Lord Alistair missbilligend nach.
KAPITEL 3
William Ferris, ein Journalist des Daily Wire, machte Ferien. Es waren seine jährlichen Ferien, die er zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern am Meer verbrachte. Unter den vielen verschiedenen Ferienorten am Meer hatte er Eastrepps gewählt, weil das Städtchen klein und ruhig war.
Das Hotel, in dem er und seine Familie wohnten, war komfortabel. Das Essen war gut, das Wetter war angenehm und die Kinder waren weniger anstrengend, als Ferris befürchtet hatte. Und trotzdem – nach einer ruhigen ersten Woche war ihm ein Gefühl hochgekommen: Ein Tag, an dem es nichts zu tun gab, konnte sich auf eine unangenehme Art und Weise ausdehnen.
In der lokalen Zeitung hatte er gelesen, dass in der Parish Hall ein Anhörung stattfinden würde. Sein professioneller Instinkt und sieben ereignislose Tage machten sich bei ihm bemerkbar. Noch eh er sich versah, führten ihn seine Beine direkt in das Zentrum des Geschehens.
Jetzt stand er vor dem Gebäude und schaute sich die Leute an, die sich auf der Treppe versammelt hatte, welche in das Gebäude führte. Sein geübtes Auge hatte schnell einmal die wichtigsten von ihnen ausgemacht: Die Vertreter der Polizei, den Arzt, den Richter und Colonel Hewitt, verräterisch in seiner Trauer, und die Vertreter der Presse.
Die letzteren schaute er mit einer wohlwollenden Nachsicht an. Es waren alles Männer, die für die lokale Presse arbeiteten – kleine Fische, die darauf hofften, sich mit einem Artikel profilieren zu können. Einige von ihnen gingen an ihm vorbei, als Ferris dastand und sich an seiner alten Zigarette eine neue anzündete. Alle schauten sie eifrig drein und betraten das Gebäude.
«Da liegt eine gute Story drin», hörte Ferris einen von ihnen sagen.
Dieser Satz bildete für Ferris einen Weckruf. Eine kurze Weile blickte er zu seinen Kollegen von der vierten Gewalt im Staat, und nochmals eine kurze Weile später nestelte er seinen Ausweis hervor, zeigte ihn der Wache, die beim Eingang stand, und trat ebenfalls ins Gebäude.
Die Stühle für die Journalisten befanden sich an einem Tisch, der sich direkt unter der Plattform befand, wo sich der Sitz des Coroners befand. Ferris drängte sich durch die anwesenden Journalisten so weit nach vorne, dass er in der unmittelbaren Nähe des Coroners Platz nehmen konnte. Er hatte nicht die Absicht, einen Pressartikel zu verfassen. Aber es würde amüsant sein zu sehen, wie seine Berufskollegen mit der Angelegenheit umgingen.
Er setzte sich und schaute sich um. Neben ihm sass ein junger, aufgeregt wirkender Journalist mit ungepflegtem Haaren. Er hatte einen Notizblock vor sich und einen Schreibstift in der Hand.
Ferris schaute ihn mitleidig an. Er erinnerte sich an die Zeit, zu der er selbst als junger Journalist in den Gerichtsälen gesessen und sich die Finger wundgeschrieben hatte. Jetzt war er Journalist beim Daily Wire. Ab und zu erschienen seine Artikel auf der Titelseite dieser Zeitung, und in wenigen Jahren würde er …
Energisch riss sich Ferris aus seinen Tagträumen und wandte sich dem Geschehen im Saal zu.
Dort wurde der Gerichtsmediziner befragt.
«Wie kam das Opfer zu Tode?», wollte der Coroner wissen.
«Erstochen – erstochen mit einem spitzen Gegenstand. Und zwar durch die rechte Schläfe.»
«Ist das nicht ungewöhnlich?»
«Das ist ungewöhnlich. Aber es zeigt auch, dass der Täter über gewisse anatomische Kenntnisse verfügt: Dort nämlich ist der Knochen dünn, und man kann gut einen Schlag anfügen, der tödlich wirkt.»
Der Gerichtsmediziner vermochte nicht zu sagen, welcher Gegenstand beim Mord verwendet wurde. Er verliess den Saal. Ersetzt wurde er durch einen verärgert dreinschauenden Mann in einem dunklen Anzug. Ferris war er schon vor dem Gebäude aufgefallen – es schien sich um den Bruder der Verstorbenen zu handeln.
«Der Colonel - der Bruder der Ermordeten», flüsterte denn auch der Journalist mit den ungepflegten Haaren, «ein scharfer Hund, wenn ich so sagen darf.»
Ferris nickte und stellte bald einmal fest, dass diese Beschreibung zutraf. Bereits schon zwei Mal hatte der Colonel den Coroner angegriffen.
‘Sehr pathetisch’, dachte sich Ferris.
Das war auch jetzt wieder so:
«Nein, Mr. Coroner», blaffte der Colonel, «meine Schwester hatte keinen einzigen Feind auf der Welt. Die Vorstellung, dass sie einen solchen hätte haben können, ist völlig verrückt.»
«Ich stelle hier lediglich Fragen», meinte der Coroner. «Es ist meine Pflicht festzustellen, ob sich aus der Feindschaft mit jemanden ein mögliches Motiv ergibt.»
«Es könnte auch ein Diebstahl dahinter stehen», meinte der Coroner nach einer Weile. «Trug Ihre Schwester irgendwelche Schmuckstücke – wertvolle Schmuckstücke?»
«Nein», antwortete der Colonel. «Keine Schmuckstücke. Von ihnen allen hat sie sich trennen müssen, als ...»
Der Colonel unterbrach sich. Alle im Saal wussten, dass die Ermordete verarmt war, als sie ihr Geld James Selby anvertraut hatte.
James Selby war ein Verbrecher, der vor einigen Jahren eine Gesellschaft gegründet hatte. Den Leuten hatte er viel, viel Geld versprochen. Sie mussten ihm lediglich ihr Geld leihen. Dann würde er mit seiner Gesellschaft das Geld gewinnbringend anlegen, es in einem unglaublichen Ausmass vermehren und damit die Leute reich und glücklich machen.
Die Leute liehen ihm ihr Geld. Manche überliessen ihm ihr gesamtes Vermögen. Doch aus dem Gewinn wurde nichts. Die Gesellschaft von James Selby fiel krachend in sich zusammen, und hunderte von Männern und Frauen in England mussten sich eingestehen, dass sie ihr Geld verloren hatten und einem Betrüger zum Opfer gefallen waren.
Eines der Opfer von Selby war die ermordete Miss Hewitt gewesen.
«Sie hatte keine Schmuckstücke», meinte der Colonel.
Der Coroner kommentierte dies nicht weiter. Seine nächste Frage galt dem Weg, den die Ermordete beschritten hatte, als sie sich an dem verhängnisvollen Abend nach Hause hatte begeben wollen.
Wie der Colonel erklärte, führte dieser Weg durch das Gehölz – einem Weg, der von Bäumen und Sträuchern gesäumt wurde und der nur schwer einsehbar war.
«Wie oft habe ich dem Town Council geschrieben und ihn auf diesen Weg aufmerksam gemacht – er ist eine Schande für den ganzen Distrikt.»
«Ich stimme Ihnen vollkommen zu», meinte der Coroner. «Ich möchte Sie jedoch nicht weiter beanspruchen. Ich erlaube mir aber, auch im Namen des Courts Ihnen mein herzliches Beileid zum Hinschied Ihrer Schwester ausdrücken.»
«Danke», sagte der Colonel mit leiser Stimme. Er erhob sich und stand eine Zeitlang so da, wie wenn er sich nicht dazu entschliessen könnte, den Saal zu verlassen und erfasste mit seinen Händen die Rücklehne des Stuhles, auf dem er während der Befragung gesessen hatte.
Ferris beobachtete ihn sehr genau. Der Colonel war rot im Gesicht, und etwas in seinen blauen Augen glitzerte. Nachdem er noch eine ganze Weile dagestanden hatte, drehte er sich langsam um und schritt die Treppe der Plattform hinunter, auf der er gestanden hatte. Kein Geräusch war im Saal zu hören, bis der Colonel, der weder nach links noch nach rechts schaute, auf seinem Stuhl im Saal Platz nahm, auf dem er vor der Befragung gesessen hatte.
«Absolut pathetisch», dachte Ferris für sich. Ihm war klar, dass er als Journalist diese Szene in einen sehr guten Artikel hätte einfliessen lassen können. Er zweifelte aber auch daran, dass seine Kollege von der Presse dies ebenso gut würden tun können – dazu fehlte es ihnen vermutlich ganz einfach an der Technik, die dazu notwendig war.
Der Coroner ergriff das Wort und verkündete, dass die Sitzung beendet war und dass man sich in vierzehn Tagen wieder treffen würde.
«Gehen Sie nicht zu schnell vor, Mr. Coroner», ertönte eine Stimme.
Sie kam von einem Mann, der in einer entfernten Ecke des Saales sass, und es war die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, sich selbst in einem Sturm Gehör zu verschaffen.
Alle im Saal drehten sich nach ihm um.
«Ich habe Informationen für Sie, und in vierzehn Tagen bin ich auf hoher See», sagte der Mann.
Es war John Masters, der sich zu Wort gemeldet hatte. John Masters war der Steuermann des Lebensrettungsbootes von Eastrepps, ein Fischer, der genauso ein Fischer war, wie es sein Grossvater und sein Vater gewesen waren. Als einziger Mann in England hatte er zwei Mal die Goldmedaille des Königs dafür erhalten, dass er Menschen das Leben gerettet hatte.
Masters bewegte sich auf den Coroner zu. Sein Gesicht war so rot wie ein Ziegelstein, seine Augen waren braun und sanft.
Er schickte sich an, die Plattform zu betreten, auf der der Stuhl des Coroners stand.
«Einen Moment, Mr. Masters», sagte der Coroner. Der Inspektor Protheroe flüsterte ihm etwas zu, und der Court wartete.
«Ja… ja», murmelte der Coroner. Er wandte sich an Mr. Masters.
«Ich glaube nicht, dass ich Ihre Aussage heute aufnehmen sollte. Vielleicht habe Sie die Güte und wenden sich mit ihr an den Polizeiposten und sprechen mit Inspector Protheroe «
«Soll ich also nach den zwei Wochen zurückkommen und mich nochmals hier äussern?», wollte Mr. Masters wissen.
«Natürlich», meinte Mr. Bennett, «wenn der Inspektor findet, dass Ihre Aussage wichtig ist.»
«Wichtig?», tönte Mr. Masters. «Oh ja, natürlich ist sie wichtig. Ich habe den Mörder gesehen.»
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